Der erste Satz – Die Kostprobe einer Geschichte?
Bücher sind wie Welten. Kleine Paralleluniversen zum Mitnehmen, in rechteckige Gefäße aus Papier gepresst mit einem Cover und einem Klappentext als Etikett. Und da man nicht unvorbereitet in Welten stolpern möchte, in denen man sich gar nicht wohlfühlt, versucht man so sorgfältig wie möglich herauszufinden, in welchem Gefäß sich wohl die vielversprechendste Welt versteckt. Man sucht nach einem Einband, der einem ins Auge springt und ruft: „Ich bin besonders! Ich bin genau das, wonach es dich sehnt!“ Daraufhin muss der Klappentext bezeugen, dass sich in diesem Gefäß wirklich ein so kostbares Universum befindet, wie das Cover es behauptet hat. Aber da sich viele Klappentexte oft nicht die Mühe machen, ihren Inhalt möglichst einzigartig zusammenzufassen, klingen die meisten recht ähnlich. Wieder so ein Jemand, der oder die auserwählt ist, etwas zu tun oder zu verhindern – man kennt es ja. Wenn der grobe Rahmen der Handlungen in der versprochenen Welt einen aber wenigstens ein bisschen reizt, dann öffnet man das Gefäß vorsichtig und wirft einen ersten Blick hinein. Lässt sich schon ein Duft von Abenteuer erschnuppern? Ein Hauch von Gefahr im Nacken spüren? Erspäht man etwa schon die ersten Anzeichen von jenen Charakteren, die sich im Laufe der Geschichte zu den vielen anderen Freunden und Gefährten gesellen werden, die man in anderen Welten gefunden, gerettet und liebgewonnen hat, oder von denen man womöglich gerettet wurde? Oder blickt man sogar in einen dieser seltenen, tiefen Strudel, die einen schon in dem Moment einsaugen, in dem man den Gefäßdeckel geöffnet und die ersten Worte gekostet hat?! Die Betonung lege ich hierbei auf „selten“, da es mir persönlich bisher nicht häufig passiert ist, dass mich ein erster Satz einer Geschichte so gepackt hat, dass ich schon im Laden das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Ich habe meine liebsten Bücher durchforstet auf der Suche nach einem solchen Satz. Einem ersten Satz, der einen mitreißt, ohne einen später dann zu enttäuschen. Dabei musste ich feststellen, dass ich die wenigsten dieser Bücher je gelesen hätte, hätte ich sie nur anhand des ersten Satzes bewertet. Ich habe allerdings auch kein Buch gefunden, welches mir nicht gefallen hat, nachdem es mit einem tollen ersten Satz begonnen hat. Trotzdem gibt es sehr unterschiedliche Arten von ersten Sätzen, die ich euch nun mit Hilfe von zehn meiner liebsten Bücher verdeutlichen will. Ich werde allerdings ein wenig schummeln und dem ersten Satz oft auch noch den zweiten in Klammern hinzufügen. Warum? Weil ganz oft der erste Satz durch den zweiten mehr Kontext erlangt.
Der wo-bin-ich-„erste Satz“
Viele Geschichten behandeln den Leser wie einen Reisenden, der aus dem Nichts vom Himmel geplumpst ist, mitten hinein in dieses fremde Universum, und der noch völlig geblendet und orientierungslos am Boden kauert. Hier tritt der erste Satz ganz sanft an den Reiseleser heran, nimmt ihn an die Hand und zieht ihn auf die Beine. Dann deutet er auf die Umgebung und erklärt ganz ruhig und langsam, wo der Reiseleser sich eigentlich befindet und was gerade passiert.
Sowohl der erste Band der Fabelheim-Reihe von Brandon Mull als auch das Buch Infinitum von Christopher Paolini bedienen sich dieses wo-bin-ich-„ersten Satzes“.
Fabelheim, Band 1:
„Kendra sah aus dem Seitenfenster des SUV und beobachtete, wie das Blätterwerk vorbeirauschte.“
(Als die Hektik der Bewegung zu viel wurde, schaute sie nach vorn und heftete ihren Blick auf einen bestimmten Baum.)
Infinitum:
„Der orangefarbene Gasgigant Zeus hing tief über dem Horizont und schimmerte vor dunklem Grund.“
(Ringsum funkelte ein Sternenfeld im schwarzen All.)
Auf der Spannungsskala sind solche ersten Sätze natürlich eher bei „Kuscheln mit Kätzchen“ anzusiedeln als bei dem gesuchten atemberaubenden Strudel. Auch die zweiten Sätze untermauern bloß das Setting der Geschichte und führen die Situationsbeschreibung des ersten Satzes fort. Beide Bücher sind trotzdem Teil meines Schatzes, da sie eben später, innerhalb des ersten Kapitels oder vielleicht auch erst ab dem dritten, spannend und fesselnd und einfach bezaubernd werden.
Der erste Satz des ersten Bandes meines absoluten Lieblings-Universums fällt auch noch unter diese wo-bin-ich-Kategorie: Joanne K. Rowlings Romanreihe Harry Potter.
Harry Potter und der Stein der Weisen:
„Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nummer 4 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar.“
(Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie könnten sich in eine merkwürdige und geheimnisvolle Geschichte verstricken, denn mit solchem Unsinn wollten sie nichts zu tun haben.)
Allerdings gibt der zweite Satz eine Vorahnung auf kommende spannende Ereignisse und fügt der Situationsbeschreibung sozusagen noch ein „stay tuned“ hinzu.
Der es-ist-etwas-geschehen-„erste Satz“
Dieser erste Satz macht es genau andersherum als sein vorsichtiger, sanfter Verwandter. Er nimmt den Leser und schleudert ihn mehr oder weniger knallhart mitten in ein Geschehnis oder vor vollendete Tatsachen. Zack! Das hier passiert gerade oder es ist schon passiert – deal with it. Dabei will der es-ist-etwas-passiert-„erste Satz“ möglichst spannend und irritierend sein, so dass der Leser im Optimalfall tatsächlich diesen Sog des Strudels verspürt, den wir hier suchen, oder zumindest neugierig wird. Die Romane Ready Player One von Ernest Cline und Nichts von Janne Teller nutzen diesen ersten Satz genau so, um den Leser auf den Rest der Geschichte neugierig zu machen.
Ready Player One:
„Jeder in meinem Alter erinnert sich daran, wo er war und was er gerade getan hat, als er zum ersten Mal von dem Wettbewerb hörte.“
(Ich saß in meinem Versteck und schaute Zeichentrickfilme, als mir der Newsfeed dazwischenfunkte: In der vergangenen Nacht war James Halliday gestorben.)
Nichts:
„Pierre Anthon verließ an dem Tag die Schule, als er herausfand, dass nichts etwas bedeutete und es sich deshalb nicht lohnte, irgendetwas zu tun.“
Bei diesen Sätzen soll die Aussicht auf ein spannendes Ereignis oder eine irritierende Erkenntnis den Leser dazu bringen, neugierig weiterzulesen. Bei dem ersten Satz von Nichts musste dazu sogar nicht einmal der zweite Satz hinzugenommen werden. Genauso spielt David Safier in seinem Buch Mieses Karma 2 (bestimmt auch im ersten; das hatte ich jetzt leider jedoch nicht zur Hand. ^^) mit der Neugier und vor allem der Verwirrung des Lesers, indem er in den ersten zwei Sätzen folgendes offenbart:
Mieses Karma 2:
„Der Tag, an dem wir beide starben, hat nicht wirklich Spaß gemacht.“
(Und das lag nicht nur an unserem Tod.)
Das Paradoxe dieses ersten Satzes weckt automatisch die Neugier des Lesers und man möchte unbedingt herausfinden, wie diese Aussage in der Geschichte möglich gemacht wurde. Zudem zieht der unterschwellige Humor die Aufmerksamkeit von Lesern auf sich, die auf eine unterhaltsame und lustige Geschichte hoffen. Im Gegensatz dazu, verhält es sich mit dem es-ist-etwas-passiert-„ersten (Ab-)Satz“ in Der Seelenbrecher von Sebastian Fitzek. Das liegt natürlich vor allem daran, dass es sich dabei nicht um ein komödiantisches Buch, sondern um einen Psychothriller handelt. Dieses Genre, zusammen mit Krimis, ist perfekt geeignet für diese Art von ersten Sätzen, da der Leser dadurch von Anfang an ungebremst in Spannung und Grusel gezogen werden kann. Für den perfekten ersten Satz ist das Buch leider trotzdem nicht geeignet, da sich Herr Fitzek für die Entfaltung seines meisterhaften Geschickes meist die komplette erste Seite gönnt – was dem Ganzen aber kein bisschen schadet! Im Ernst, seine Bücher sind der blanke (atemberaubende) Thrill. Von der ersten bis zur letzten Seite und in den Nachwehen darüber hinaus.
Der Seelenbrecher:
„Zum Glück war alles nur ein Traum.”
(Sie war nicht nackt. Und ihre Beine waren auch nicht an diesen vorsintflutlichen Gynäkologenstuhl gefesselt, während der Wahnsinnige auf einem verrosteten Beistelltisch seine Instrumente sortierte.)
Wie sich bei diesem ersten Satz schön zeigt, fehlt ohne die nachfolgenden Sätze eindeutig zu viel Kontext. Für sich genommen könnte der erste Satz sowohl einen romantischen Schnulzroman, einen Krimi, eine Abenteuergeschichte oder sonst ein Genre einleiten. Kombiniert mit den beiden weiteren Sätzen entsteht erst dieser Grusel, der definitiv den Sog eines Spannungsstrudels in mir auslöst.
Der oha-na-sowas-„erste Satz“
Die letzte Art eines ersten Satzes stellt eine Mischung der ersten beiden Arten dar. Ein Ereignis oder eine Situation wird beschrieben, allerdings handelt es sich dabei dann um eine äußerst lustige, schräge, verblüffende und neugierig machende Aussage. Der Leser wird stutzig, ist aber zugleich auch fasziniert von diesem Hauch der Fremdheit und möglicherweise auch der Magie, die da mitschwingen. Es ist die Andersheit, das völlig Neue, das den Leser hier festzuhalten versucht. Und bei mir gelingt es fast immer, mich dann auch mitzureißen, mit der Faszination des Unbekannten. Darum befindet sich in dieser Kategorie auch mein persönlicher liebster – wenn auch nicht unbedingt perfekter – erster Satz, zusammen mit einem fast perfekten Satz, der jedoch leider nicht ganz zählen darf, weil er nicht den Beginn der Geschichte markiert, sondern das Vorwort einläutet. Zuerst haben wir die ersten beiden Sätze von Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams. Jedem, der das Buch gelesen hat oder der dessen Inhalt kennt, wird klar sein, dass es sich bei dem oha-na-sowas-„ersten Satz“ auf jeden Fall um etwas Schräges, Lustiges, womöglich sogar leicht Absurdes handeln wird. Uns als menschlichem Leser wird durch die ersten zwei Sätze ein Spiegel vorgehalten, der uns nicht gerade schmeichelt, aber genau damit unseren Humor anspricht und die Neugier auf eine Erklärung dazu weckt. Diese fremdartige Perspektive, die der Leser in dieser Welt einnimmt, kreiert in mir schon einen kleinen Strudel.
Per Anhalter durch die Galaxis:
„Weit draußen in den unerforschten Einöden eines total aus der Mode gekommenen Ausläufers des westlichen Spinalarms der Galaxis leuchtet unbeachtet eine kleine gelbe Sonne.“
(Um sie kreist in einer Entfernung von ungefähr achtundneunzig Millionen Meilen ein absolut unbedeutender, kleiner blaugrüner Planet, dessen vom Affen stammende Bioformen so erstaunlich primitiv sind, dass sie Digitaluhren noch immer für eine unwahrscheinlich tolle Erfindung halten.)
Der perfekte erste Satz – für ein Vorwort – befindet sich in der Geschichte Die Musik der Stille von Patrick Rothfuss. Er fällt definitiv auch unter die Kategorie oha-na-sowas, denn er verhält sich ganz und gar nicht so, wie es der Leser erwarten würde. Im Gegenteil. Dieser Satz nimmt sich etwas heraus, dass man sich als Satz und als Autor erstmal trauen muss. Selbstverständlich ist das Risiko bei einem Autor wie Patrick Rothfuss verschwindend gering. Aber doch bringt er durch diese umgekehrte Psychologie Leser wie mich dazu, sich natürlich strickt über diesen ersten Satz hinwegzusetzen – win-win.
Musik der Stille:
“Du solltest das Buch vielleicht nicht kaufen.“
Warum der Autor den Leser mit dem ersten Satz, entgegen den Ratschlägen seiner Lektoren und Verleger, vor diesem so andersartigen Buch warnen will und offenbar muss, erklärt er im übrigen Vorwort ausführlich. Und ehrlichgesagt hatte ich danach gar keine andere Wahl mehr als dieses Buch zu kaufen und zu lesen.
Mein bester erster Satz
Nun zu meinem Gewinner-Satz. Er gehört ebenfalls zu der oha-na-sowas-Kategorie, kann mich sowohl alleine als auch in Kombination mit den beiden nachfolgenden Sätzen überzeugen und packen. Mit ihm öffnet Erin Morgenstern den Zugang in ihre Welt von The Night Circus und erzeugt für mich diesen Strudel, der mich schon nach dem ersten Satz in die Geschichte zieht.
The Night Circus:
„The circus arrives without warning.”
(No announcements precede it, no paper notices on downtown posts and billboards, no mentions or advertisements in local newspapers.
It is simply there, when yesterday it was not.)
In seiner Einfachheit schafft es dieser erste Satz, mich zu bezaubern und mit Neugier zu füllen. Ich öffne den Buchdeckel und mir strömt schon ein Hauch von Magie, das Flüstern von Geheimnissen und das Prickeln von Vorfreude entgegen. Dazu klingt der Satz an sich, auch kombiniert mit den beiden nachfolgenden, schon nach Poesie. Und nachdem ich das Buch natürlich bereits durchgelesen habe, kann ich auch sagen, dass dieser erste Satz nicht zu viel verspricht. Die Geschichte, die darauffolgt, ist ebenso magisch und geheimnisvoll, wie es dieser erste Satz versprochen hat.
Zum Schluss möchte ich aber noch darauf eingehen, wie wichtig so ein erster Satz in einer Geschichte denn ist oder sein sollte. Die verschiedenen ersten Sätze und deren Kategorien haben gezeigt, dass Bücher völlig unterschiedliche Herangehensweisen haben, um Leser „einzufangen“. Viele Geschichten nehmen erst innerhalb der ersten Seite oder des ersten Kapitels an Fahrt auf. Daher sollte man sich nicht zu sehr auf den ersten Satz versteifen. Ich persönlich überprüfe gerne, ob mir der Schreibstil eines Buches gefällt, indem ich die ersten zwei bis vier Seiten überfliege. Und manchmal entdecke ich dann doch ein Buch mit einem so fesselnden ersten und zweiten und dritten Satz, dass ich dem Buch schon vor Verlassen des Ladens verfallen bin.
Welche erste Satz-Kategorie zieht euch in den Bann? Und was für andere Kategorien habt ihr noch so entdeckt?
Liebe Grüße und Nox!
Catly