Es können nur die Geschichten erzählt werden, von denen man sich noch an den Anfang erinnern kann. Der erste Satz eines Buches könnte, ähnlich wie die letzten Worte eines Sterbenden, also besonders bedeutsam werden und als Mythos durch das kulturelle Bewusstsein geistern. Also überlegt man sich besser zweimal, wie der erste Satz lauten soll und vielleicht auch der letzte.
Bekannte Sätze und Zitate schwirren um bekannte Schriften herum und oftmals sind diese bekannter als das Buch selbst. Bücher, die jeder kennt, sind daher auch nicht selten diejenigen, die kaum jemand wirklich gelesen hat. Der erste Satz reicht dabei vollkommen aus, um Mythen zu entwickeln, mit denen sich ganze Bibliotheken füllen lassen.
Manchmal gibt der erste Satz auch Anlass dazu das Lesen einzustellen, so wie etwa in Wittgensteins Tractatus Logico Philosophicus, in dem es heißt: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.” Mein Gott, das muss man erst einmal sacken lassen … Ähnlich war sich wohl auch Kant der Bedeutung des ersten Satzes bewusst, als er seine Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? mit den Worten: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.” begann. Auf die Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?” war ein Preis ausgesetzt und Kant wollte wohl gleich im ersten Satz Eindruck schinden und die Quintessenz seiner Ausführungen auf den Punkt bringen. Den Preis hat er übrigens nicht gewonnen, später kam dieser Schrift und diesem Satz jedoch die verdiente Würdigung zu.
Im Falle Wittgensteins und Kants ist der erste Satz tatsächlich Programm. Wittgenstein stellt fest, was alles der Fall ist und eine Tatsache jagt die nächste. Am Ende schließt er mit der ernüchternden Einsicht, dass zwar nun alles Sagbare gesagt sei, damit aber noch nicht besonders viel geleistet sei. Kant beweist mit seinem ersten Satz auch nahezu alles Folgende schon zusammengefasst zu haben. Ist mit diesen ersten Sätzen also schon alles gesagt? Sollte man in Zukunft besser bloß kleine Kärtchen mit Buchtiteln und ersten Sätzen verkaufen, weil man sich den Rest sparen kann?
Selbstverständlich nicht! Lesen ist Denken mit einem anderen Gehirn. (Dieser Spruch ist geklaut, ich weiß nur nicht von wem.) Es lohnt sich also mitzudenken, den Argumentationspfad zu gehen und ihn über alle Seiten zu verfolgen. Der erste Satz ist hierfür lediglich ein Startschuss, eine Fanfarenmusik, die ein großes Vorhaben ankündigt und manchmal ist der erste Satz so außergewöhnlich, dass er diesem Werk sogar einen großen Platz in der Geschichte beschert.
Valery Horrox